Plant man eine Reise nach Skandinavien und fragt man seinen Partner vorher: „Wohin möchtest du denn fahren, was möchtest du sehen?“ – dann muss man damit rechnen, dass er antwortet: „Ich will ans Nordkap!“
Um die Autofahrerei abzukürzen, nimmt man den Autoreisezug nach Hamburg. Aber auch von Norddeutschland aus ist es noch ein Stück ans Nordkap, einige tausend Kilometer Straße liegen vor einem, die Straßen scheinen manchmal endlos zu sein. Und etwa ab dem 64. Breitengrad menschenleer.
Aber man fährt nicht nur über Land, oft muss Wasser überwunden werden – Brücken, Fähren, Tunnel führen über oder unter Sunde, Fjorde, Flüsse, Seen.
Die Fährpassage von Puttgarden (D) nach Rødbyhavn (DK) verbringt man auch bei bewölktem Himmel am besten an Deck:
An der schwedischen Südwestküste scheint die Sonne, der erste Halt mit Übernachtung ist Grebbestad: Ein kleines ehemaliges Fischerstädtchen an der schönen Küste Bohusläns, die sich nördlich von Göteborg bis an die norwegische Grenze zieht:
Man isst dort hervorragend Fisch und Meeresfrüchte…
…und findet charmante Unterkünfte, vor denen schöne alte Automobile parken (Ton in Ton mit der alten Holzvilla ein Volvo Amazon aus der 120er Reihe):
Etwas weiter im Landesinneren, bei Tanum, befinden sich die weltberühmten Felsritzungen, die zum Weltkulturerbe der UNESCO zählen:
Diese Felsritzungen wurden vor ungefähr 3000 Jahren in große, flache, liegende Felsen eingemeisselt. Die Umgebung hat sich verändert, doch auch heute liegen die Felsen inmitten der Natur, in Waldlichtungen oder auf Anhöhen. Die weiße oder rote Färbung für eine bessere Sichtbarkeit erhielten sie erst im Zuge der wissenschaftlichen Aufarbeitung.
Ein kurzer, informativer Film der UNESCO auf youtube, der ein paar schöne Aufnahmen dieser Stätten zeigt, ist hier zu sehen:
Der Kilometerzähler zählt schon ein Weilchen vierstellig weiter, die 1.000 km-Marke ist längst erreicht. Von Bohuslän ist es nur noch ein Katzensprung nach Norwegen.
In Heddal, etwas südwestlich von Oslo, liegt die größte Stabkirche Norwegens. Sie datiert vermutlich aus dem 12. bis 13. Jahrhundert, wurde vollständig aus Holz konstruiert und vereint heidnische mit christlichen Symbolen und Ornamenten – Norwegen wurde erst im 10./11. Jahrhundert christianisiert.
Die größeren Städte liegen an der Küste, die Fahrt durch Südnorwegen ist daher eine Überlandfahrt von einem kleinen Ort zum nächsten, teils auf Höhen von 2000 m über dem Meeresspiegel, und ständig an Wasser vorbei – Seen, Flüsse, Fjorde. Die Distanzen zwischen den Ortschaften sind mitunter groß.
Was so gelblich-weiß zwischen den Bäumen durchschimmert, sind Rentierflechten (Cladonia stellaris):
Der natürliche Feind Nr. 1 dieser Flechte wird uns dann allerdings erst in Schweden begegnen. Das aber nicht zu knapp…
Auf dem Weg hinauf Richtung Hellesylt noch eine Stabkirche in Lom:
Auch hier wurden uralte heidnische Symbole parallel zu den neuen christlichen eingesetzt:
Das alte Holz dieser Stabkirche duftet wunderbar aromatisch, man sollte Sehenswürdigkeiten wirklich viel öfter auch beschnuppern.
Geschmackssicheres Raststättenmobiliar aus Beton vor eindrucksvoller Kulisse:
Hellesylt am Geirangerfjord: Alte weiße Holzarchitektur, und der Fähranlegehafen, von dem aus die einstündige Überfahrt nach Geiranger startet.
Das waren bis jetzt etwa 1900 km. Also weiter, Richtung Molde…
…und hier beginnt er, der 8 km lange Atlanterhavsveien: Bekannt als eine der schönsten Küstenstraßen weltweit und beliebt als Autotestroute mit Aussicht (Ich weiß jetzt auch, wieso. Und ich kann die Fahrt bei Abendsonne sehr empfehlen.):
Die insgesamt sieben Brücken sind spektakulär, winden sich in kühnen Schlaufen zwischen den Schären durch:
Eine Ergänzung vom Dezember 2019: Zufällig bin ich auf einen wunderbaren kleinen Film der BBC vom April 2019 gestoßen, der die Schönheit dieser sehr speziellen Brücken durch die beeindruckende Küstenlandschaft zeigt – enjoy:
BBC: Norway’s beautiful but treacherous road
Am Ende der Atlantikstraße liegt das Städtchen Kristiansund:
Weiter geht es Richtung Trondheim, an den Tankstellen bekommt man all das, wovon das Land im Überfluss zu bieten hat: Erdöl, Luft, Wasser.
In Norwegen führen zahllose Brücken über Waser:
Und mindestens ebensoviele Fähren verbinden gegnüberliegende Ufer:
Auch Trondheim ist architektonisch von Holz geprägt. Der in den 1770er Jahren errichtete Stiftsgården ist eines der größten Holzpalais des Nordens, heute dient es als königliche Residenz.
Ebenfalls aus Holz sind die alten Speicherhäuser am Nidelv, sie sind sogar noch älter als der Stiftsgården, stammen etwa aus der Mitte des 18. Jahrhunderts und dienten als Warenumschlagplatz. Sie ruhen auf Holzpfählen über dem Wasserspiegel, man denkt sofort an Venedig:
Einer von vielen älteren Bauten Norwegens, der den Begriff „Holzhaus“ ziemlich öffnet:
Und hier ein Kollege: Im Inneren voll bis in die letzten Winkel, viel schönes Glas der norwegischen Glaskünstlerin Benny Motzfeld, Geschirr von Figgjo und Porsgrund, am Trottoir die Flohmarkt-Abteilung:
Die Übersetzung zur Lehrtafel, von oben nach unten: Dorsch/Kabeljau, Köhler/Kohlfisch, Lengfisch, Wittling, Schellfisch … allesamt aus der Ordnung der Dorschartigen, die aus der norwegischen Küche nicht wegzudenken sind (dazu weiter unten mehr):
Nach Trondheim wird ostwärts Richtung Schweden fortgesetzt, der erste Zwischenstopp dort (und die fünfte Übernachtung) ist Östersund am Storsjön (Kilometerstand: 2590). Hier liegt die Insel Frösö (bekannt u.a. für ihre Textildruckerei gleichen Namens, siehe auch hier). Der Abstecher nach Frösö hinüber gilt einem Runenstein, derer es in Skandinavien über 3000 gibt. Alleine in Schweden sind etwa 2800 Runensteine erhalten. Sie wurden vom 4. bis ins 12. Jhdt. von den Wikingern errichtet und dienten oftmals – und sehr vereinfacht formuliert – der Selbstdarstellung der Lokalgrößen von Stand.
Auf dem hier abgebildeten Runenstein wurde die Botschaft in ein Schlangenband gemeißelt, was ihn als einen jüngeren Stein datiert:
Und wieder weiter… vom Nordkap trennen uns schließlich noch über 1400 km. Der schwedische Teil der Strecke führt durch Norrland, wie der nördliche und größte Landesteil Schwedens heißt. Die Straßen sind einspurig, der Gegenverkehr schütter und die waldige Landschaft gleichbleibend mit der Tendenz der Bäume zu „immer schmäler“ und „immer niedriger“.
Was einem in Norrland häufig begegnet, sind Rentiere. Die wenigsten Rentiere sind wild, der Großteil ist halbzahmes Nutztier, doch bewegen sich die Tiere frei durch die nordischen Länder. Sie haben gelernt, die Straßen zu nutzen, indem sie bevorzugt am Straßenrand oder am Mittelstreifen entlanglaufen.
Dieser Anblick mit Variationen sollte sich uns nun einige Tage lang bieten:
Die erwähnten immer schmäler werdenden Bäume sind ein Phänomen in schneereichen Gegenden: Um durch die massive Schneelast nicht Astbruch zu riskieren, haben v.a. die Fichten eine evolutionäre Wandlung von ausladend zu schlank gemacht. Diese Fichtenform nennt man Kerzenfichten.
Tankstellen waren ein ständiges Thema, doch wenige haben so viel Spaß gemacht wie diese in Karesuando an der schwedischen Grenze zu Finnland. Der Tankstellenshop bedient die lokalen Bedürfnisse (eine Crushed Ice-Maschine habe ich nicht gesehen):
Etwa 3 m² der Wand nehmen verschiedene Blinker, Wobbler und andere Köder ein:
Gummistiefel gehören zur Grundausstattung…
…und eine Axt kann auch nicht schaden:
Wildwaagen bis 200 kg, sowie diverse Haken für das erlegte Wild:
Konservendosen und Schokoriegel gehören ebenfalls zu den Basics:
Neben dem Kaffeeautomaten dann noch ein paar Fliegen:
…zeig mir deinen Tankstellenshop, und ich sage dir, wo du lebst.
Und weiter, noch 510 km bis „ganz oben“. Ein Schlenker nach Alta, und ab da war das Ziel Nordkap endlich nicht mehr weit.
Die Küste am Porsangenfjord, die hinauf ans Nordkapp führt, ist atemberaubend schön. Die Straße windet sich kurvenreich an schroffen Gesteinsmassen vorbei, immer das Meer dicht daneben. Die Gegend ist nur schütter besiedelt, durchschnittlich 4 Menschen teilen sich in der Gemeinde Nordkapp (norwegisch) bzw. Davvinjárgga (samisch) einen Quadratkilometer.
Dorschfischerei spielt hier nach wie vor eine große Rolle, auch wenn der Dorschbestand in den vergangenen 60 Jahren um 2/3 abgenommen haben soll und der Dorsch mittlerweile zu den bedrohten Arten zählt. Doch der Dorsch prägt noch immer die Küste Norwegens, an der immer wieder Trockengestelle (norwegisch: hjell) aus Holzbalken aufgestellt sind.
An ihnen werden geköpfte, ausgenommene Dorsche paarweise an den Schwanzflossen zusammengebunden zum Trocknen aufgehängt. Nach 2-4 Monaten werden sie abgenommen. Dann sind sie hart und trocken und müssen vor Zubereitung und Verzehr erst wieder eingeweicht werden. Trocknen oder Dörren ist die älteste Konservierungsmethode, und sie ist billig, die Fischer selbst können den Fisch trocknen. Trockenfisch kann jahrelang haltbar sein, zudem ist er einfacher zu transportieren als Frischfisch. Das norwegische Wort torsk für Dorsch stammt vom altnorwegischen Wort für Trockenfisch, turskr, ab. Als Bacalhau gehört der Trockenfisch in Portugal fix auf die Speisekarte, Spanien kennt ihn als Bacalao, und in Italien ist er als stoccafisso beliebt – Italien ist Abnehmer von mehr als der Hälfte des norwegischen Stockfischexportes, und da reden wir von 2000 bis 3000 t jährlich.
Auch hier oben trifft man auf Rentiere:
Ein Albino-Rentier mit mächtigem Geweih:
Wie auseinandergerissen ragt der Schiefer aus dem Geröll:
Unglaubliche 45 km nur noch:
Eine aufgelassene, verfallene Volksschule:
Und hier ist es: Das Nordkap!
Steht man dann an einem kalten, diesigen Nachmittag im August nach sieben Tagen und 4000 km endlich oben, am letzten, (fast) nördlichsten Felsmassiv Europas, dann sieht man das hier:
Sehr viel Meer, sehr viel Horizont. Und bis zum Nordpol wären’s nur noch 2100 km – ein Klacks. Aber wir sind wieder umgedreht.
Was auf der Rückfahrt zu sehen war, folgt in Kürze in Teil 2.