Faustkeile, Familiensilber und Fingerfood

Faustkeile, Familiensilber und Fingerfood

Es ist verblüffend, wie viele Spielarten der drei Grundbesteckteile Messer, Gabel, Löffel existieren.

Abgesehen von den eingesetzten Materialien gibt es einen erstaunlich großen Formenspielraum. Länge, Art des Griffs und Hefts, Winkel, Bauchigkeit der Laffe, Breite und Länge der Zinken, Form der Klinge bieten einiges an Gestaltungsfreiheit.

Natürlich sind die Dimensionen von den menschlichen Proportionen abhängig, und von den jeweiligen Esskulturen und damit verbundenen (Tisch)Sitten.

Weltweit überwiegen jene Kulturen, die ohne Besteck essen, dies aber mit festen Regeln. Eine dieser Regeln hat in vielen Weltgegenden die rechte Hand als die Ess-Hand und die linke als die unreine, schlechtere Hand bestimmt (1). Fastfood und Fingerfood machen aber auch in unserer Messer-Gabel-Löffel-Kultur Besteck immer häufiger überflüssig.
Weit mehr Menschen essen mit Stäbchen als mit Löffel, Gabel, Messer.

Vergleicht man Neuauflagen älterer Entwürfe mit den Originalbestecken, stellt man fest, dass die Sets früher deutlich umfangreicher waren. Als Beispiel hier Folke Arströms 23-teiliger Entwurf Focus de Luxe von 1955 für Gense (S):

Die Neuauflage beschränkt sich auf einen überschaubaren Satz, im Falle des oben abgebildeten Bestecks auf 10 Teile des Originals (+ einen gänzlich neu dazu entworfenen „Multispoon“). Es scheint heute nicht mehr notwendig, einen kompletten Bestecksatz für 12 Personen mit zwei bis drei Dutzend unterschiedlichen Besteckteilen zu besitzen. Gebrauchsgegenstände sind allgemein funktioneller und reduzierter geworden.

Vom Prinzip her das älteste Besteckteil ist das Messer. Seine Vorläufer waren steinzeitliche Schneidwerkzeuge aus Stein, die auch dem Zerteilen von Nahrung dienten. Hier ein Schneidwerkzeug aus der Jungsteinzeit (11.500-9.500 v. u. Z.):

Das Material ist ein Impaktit, in diesem Falle Libysches Wüstenglas, das entstand, als vor etwa 30 Millionen Jahren ein Meteorit oder Asteroid in die Libysche Wüste (heute im südwestlichen Ägypten) einschlug. Die enorme Hitze ließ den Quarzsand zu einer glasigen Masse schmelzen und erstarren.

Noch bis ins 18./19. Jahrhundert und quer durch alle Gesellschaftsschichten wurde bei Tisch häufig das Messer als einziges Besteckteil eingesetzt. Und zwar lediglich zum Zerkleinern der Speisen, nicht aber für die Nahrungsaufnahme, die mit den Fingern geschah.

Nach dem Messer das älteste Besteckteil ist der Löffel, der die hohle Hand ablöste. Die ärmere Bevölkerung ernährte sich bis ins 19. Jahrhundert zu einem guten Teil von Brei, der sich löffeln ließ. Dazu wurden Holz- oder Hornlöffel benützt, hier vier schwedische Exemplare aus Horn:

alte schwedische Hornöffel

Einer dieser alten Hornlöffel hat die eingravierte Initiale „A“ am Griff – vielleicht gehörte er einem Arvid, oder einer Astrid,…

alter schwedischer Hornlöffel

Die kunstvoll gearbeiteten Löffel aus Edelmetallen galten im 15. Jahrhundert und länger als Wertgegenstände und wurden vererbt. So erklärt sich auch die Redensart „den Löffel abgeben“: Jemand stirbt und vererbt seinen Löffel.
Solch ein Besteck war also wertvoll und wurde daher – zumeist in einem Futteral – bei sich getragen, eingesteckt. Das Wort „Besteck“ leitet sich von „beistecken“ ab.
Lange Zeit war es üblich, seinem Taufkind einen silbernen oder goldenen Tauflöffel zu schenken – daher stammt auch die Redewendung, jemand sei „mit einem silbernen (bzw. goldenen) Löffel im Mund geboren“. Man wünschte dem Kind Wohlstand und dass es ihm nie an Essen mangeln möge. Immerhin hatte das Kind damit zumindest einmal seinen eigenen Löffel, den es auch als Erwachsene/r immer beigesteckt tragen würde. Mädchen, die eine Mitgift für eine spätere Heirat brauchten, bekamen oft bis zur Hochzeit zu jedem Geburtsstag, Weihnachten, etc., weitere Silberbesteckteile und hatten damit einen Teil ihrer damals so wichtigen Mitgift beisammen. Die Tradition des Silberlöffel-Schenkens bis zur Konfirmation mit 12 Jahren besteht in Skandinavien heute noch, wenn auch nicht mehr so stark (und wird von den Beschenkten meist mit wenig Begeisterung aufgenommen).

Wann setzte sich die Gabel durch? Zwei- bis vierzinkige kleine Gabeln wurden im 14. Jahrhundert vom Adel nur für Obst, Konfekt, Käse verwendet, während die meisten anderen Speisen mit den Fingern oder Löffeln gegessen wurden.  So wurde die Gabel noch bis ins 18. Jahrhundert von manchen als Frauen vorbehaltene modische Torheit empfunden, wozu hatte man denn 10 Finger? Der katholischen Kirche war die Gabel im Mittelalter gar als Symbol des Teufels suspekt.
Aber auch Bernard Rudofsky, der 1987 im Wiener MAK in seiner Ausstellung „Sparta/Sybaris“ (2) Gebrauchsgegenstände verschiedener Kulturen einander gegenüber stellte, war ein Verfechter des Essens mit der Hand oder mit asiatischen Ess-Stäbchen.
Der permanente Einsatz der Gabel bei Tisch etablierte sich im (europäischen) Bürgertum erst im 19. Jahrhundert.

Ebenfalls im 19. Jahrhundert begannen einheitliche Bestecksätze für den bürgerlichen Haushalt eine Rolle zu spielen. Im Zuge der Industrialisierung konnten Bestecke massenhaft und billiger produziert werden und fanden so ihren Weg auch in die unteren Gesellschaftsschichten. Edelstahlbesteck galt aber bis zum 2. Weltkrieg als billiger Ersatz für Silberbesteck.

Materialknappheit bedingte in den Nachkriegsjahren Besteckentwürfe, die materialsparend kürzere Zinken und Klingen aufwiesen, wie sie insgesamt deutlich kürzer waren als ihre Vorgängermodelle. Häufig kamen „neue“ Materialien wie Kunststoffe oder Edelhölzer für die Griffe zum Einsatz. Die Wohnräume der 1950er Jahre waren kleiner und niedriger dimensioniert, entsprechend kleiner waren die Möbel. Wie hätten sich da die alten, elendslangen Bestecke auf neuen, kleineren Tischen ausgenommen?
Neue Längen, Formen und Materialien waren vielleicht auch eine Reaktion auf den Krieg, ein Versuch, durch einen klaren Traditionsbruch und Schaffung von völlig Neuem das Alte hinter sich zu lassen. Oder wie Wolfgang-Otto Bauer schreibt, die „Schaffung bewusster Gegenmodelle zu traditionell bürgerlichen Besteckformen aus Silber.“(3)

Überhaupt spielten und spielen Konventionen bei Tisch eine große Rolle. Jaques Revel schreibt über die Festlegung der immer raffinierteren Tischsitten im 16.-18. Jahrhundert: „In Gesellschaft zu speisen erheischte Selbstkontrolle. Man mußte dabei seinen Körper mit seinen unanständigen Gelüsten, seinen Funktionen, Geräuschen und Säften vergessen. Aber das allein genügte nicht mehr: Zu den Tischmanieren rechnete nun die doppelte Technik der Haltung bei Tisch und der Nahrungsaufnahme. Das Essen wurde zu einer Art Ballett, wobei jede Geste jedes Tischgenossen geregelt war. Der Gebrauch individueller Gedecke und einer Vielfalt  neuer Tischutensilien – Teller, Gläser, Servietten, Messer, Gabeln – verlangte Übung. (…) erst nachdem alle diese Regeln gelernt waren, konnte die Tafel zum Ausdruck jener sichtbaren Sozialität werden, die ihr Sinn ist.“ (4) Tischmanieren waren also v.a. einmal etwas Höfisches, später auch etwas Großbürgerliches. Niklas Luhmann schreibt über das Regelwerk des Benehmens und der Etikette der stetig an Bedeutung verlierenden Oberschichten im 16.-18. Jahrhundert: „Die Oberschichteninteraktion verliert schon an gesellschaftsstruktureller Bedeutung, und gerade darum bietet sich als erstes der Ausweg an, Interaktionsfähigkeit als Selbstzweck zu zelebrieren.“ (5)

In Le fantôme de la liberté (Das Gespenst der Freiheit) von 1974 dreht Luis Buñuel neben anderen gesellschaftlichen Konventionen auch die Tischmanieren herrlich absurd um:

Tischsitten dienen nach wie vor dazu, sich über die Beherrschung derselben als zu einer Gruppe zugehörig erkennbar zu machen, sich also von jenen sozial zu unterscheiden, die weniger versiert im Verspeisen von zahlreichen Speisegängen mit entsprechend unterschiedlichen Besteckteilen  sind.

Zwei Blogartikel in progress zeigen Ihnen verschiedene Interpretationen von Essbesteck, einmal sind skandinavische Klassiker zu sehen, der zweite Artikel behandelt österreichische Entwürfe.

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Das Artikelbild zeigt Charlie Chaplins Brötchentanz im Film The Gold Rush (Der Goldrausch) von 1925.

(1) So stehen ja die beiden entgegengesetzten Adjektiva „rechts“ und „links“ in zahlreichen Sprachen nicht nur für eine örtliche sondern auch für eine moralische Qualität: lat. dexter f. rechts → männl. Vorname Dexter; the right; le droit; pravý; das Recht; eine linke Tour; vänstra med någon; ein sinistrer Typ;…

(2) Rudofsky, Bernard: Sparta / Sybaris. Keine neue Bauweise, eine neue Lebensweise tut not. (Residenz Verlag, 1987), S. 109 ff.

(3) Bauer, Wolfgang-Otto: Europäisches Besteck-Design 1948-2000 (Arnoldsche, 2007), S. 28

(4) Revel, Jaques et al.: Formen der Privatisierung, in: Ariès, Philippe und Duby, Georges (Hg.): Geschichte des privaten Lebens. 3. Bd. (Bechtermünz Verlag, 2000), S. 189

(5) Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik (Suhrkamp, 1993), S. 97


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